Piratenpartei, ÖDP, Volt und “Die Partei” kritisieren, dass die Bundesregierung die Zwei-Prozent-Hürde bei der Europawahl einführen will. Millionen an Stimmen würden so “vernichtet”.

Es ist eine ungewöhnliche Runde, die sich an diesem Montag in Raum 4.09 des Europäischen Hauses in Berlin zusammengefunden hat. Das Zimmer ist ganz am Ende eines dunklen Flures, direkt neben den Toiletten. Die Technik in dem Raum funktioniert nicht richtig. Man kann sich dort leicht in eine Ecke abgeschoben fühlen. Insofern passt der Ort ganz gut zu dem, um was es hier gehen soll: Deutschlands Kleinparteien sind der Ansicht, dass die Ampelkoalition sie aus dem Europaparlament drängen will.

Piratenpartei, ÖDP, Volt und Die Partei haben deshalb gemeinsam zum Gespräch geladen. Normalerweise sind sie politische Konkurrenten - doch jetzt hat sie die Empörung über die Bundesregierung vereint. Die Parteien beklagen das “Ignorieren” des Wählerwillens

Die Ampelregierung wolle “den Wählerwillen absichtlich ignorieren, nur um sich Stimmen einzuverleiben - das ist höchst undemokratisch”, klagt die ÖDP-Europaabgeordnete Manuela Ripa. “Die antidemokratische Machtpolitik der Ampel schockiert mich”, sagt der Volt-Abgeordnete Damian Boeselager. Martin Sonneborn, er sitzt für Die Partei in Straßburg, sagt, er sorge sich um die Demokratie im Europäischen Parlament. Und Anne Herpertz, die Vorsitzende der Piratenpartei, kritisiert, dass “mehrere Millionen an Stimmen vernichtet” werden sollen. Drastischer kann man eine Regierung kaum verurteilen.

Bei der letzten Europawahl ist den vier Kleinparteien der Einzug ins Parlament gelungen, genauso wie der Tierschutzpartei, den Freien Wählern und der Familienpartei. Doch jetzt soll durch eine Änderung des Europäischen Direktwahlakts eine Sperrklausel eingeführt werden, die sie aus dem Parlament drängen könnte. Sie soll bei mindestens zwei Prozent liegen. Der Bundestag hat der Änderung des Direktwahlaktes gerade zugestimmt - in diesem Fall waren Ampelkoalition und Unionsfraktion sich mal einig. Der Bundesrat wird die Änderung des Aktes voraussichtlich in seiner nächsten Sitzung am 7. Juli billigen. Abgesehen von Deutschland, Spanien und Zypern haben bereits alle EU-Staaten zugestimmt.

Diese Sperrklausel komme auf Betreiben Deutschlands, klagen die Kleinparteien unisono. Die aktuelle Bundesregierung und ihre Vorgänger hätten sich vehement dafür eingesetzt. Die Grünen hätten die Änderung lange verhindert, ohne sie habe es nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag gegeben. Doch bei den Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP seien die Grünen dann umgefallen - deshalb sei der Weg jetzt frei. Aber warum wählt die Ampelkoalition den Weg über Europa und führt nicht einfach national eine Sperrklausel ein? Um das zu verstehen, ist ein Rückblick nötig.

Bei den Europawahlen gab es in Deutschland zunächst eine Fünf-Prozent-Hürde. Nach der Wahl 1994 durften deshalb zum Beispiel die FDP und die Republikaner keine Abgeordneten mehr entsenden, weil sie unter die Hürde gerutscht waren. 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde dann jedoch gekippt. Daraufhin wurde eine Drei-Prozent-Hürde beschlossen, die das Verfassungsgericht aber noch vor der Europawahl 2014 ebenfalls verworfen hat. Die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Chancengleichheit der politischen Parteien und der Wahlrechtsgleichheit, befanden die Richter. Die Situation im Europäischen Parlament sei eine andere als die im Bundestag, “wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig” sei. Satiriker Sonneborn ärgert sich über Frank-Walter Steinmeier

Bei der Europawahl 2014 zogen deshalb acht Parteien ins Parlament ein, obwohl sie unter fünf Prozent geblieben waren. Einer dieser Abgeordneten war Martin Sonneborn - er sitzt immer noch im Europaparlament. Am Montag zitiert er eine Passage aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2014, um zu belegen, dass es schon seit damals Bestrebungen gibt, die kleinen Parteien durch einen Umweg über europäisches Recht wieder los zu werden.

In dem Artikel stand, dass der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesagt habe, auch wegen Sonneborns “Jux-Partei” müsse man sich fragen, “ob es wirklich für alle Zeiten unzulässig sein soll, über eine Sperrklausel für das Europaparlament nachzudenken”. Wenn dies über das nationale Recht nicht gehe, müsse man halt überlegen, auf europäischer Ebene eine solche Hürde einzuführen.

Genau so ist es gekommen. Wenn Deutschland, Spanien und Zypern die Änderung jetzt ratifizieren, kann die Sperrklausel von der übernächsten Europawahl an gelten. Die deutschen Regierungsparteien “haben mit diesem Vorgehen einen Weg gefunden, die europäische Ebene für undemokratische Vorhaben zu missbrauchen, um das deutsche Verfassungsgericht auszuschalten”, sagt Piratenpartei-Chefin Herpertz. Das sei ein “Missbrauch der eigenen Macht zum Nachteil der politischen Gegner”. Das Argument von der Zersplitterung lässt die Piratenpartei nicht gelten

Herpertz lässt auch das Argument von der angeblichen Zersplitterung des Europaparlaments nicht gelten. Zum einen seien im Parlament bereits jetzt rund 200 Parteien aus 27 Staaten vertreten, trotzdem sei es arbeitsfähig. Zum anderen hätten sich fast alle Abgeordneten der deutschen Kleinparteien den großen Fraktionen angeschlossen.

In der Ampelkoalition sehen sie das jedoch ganz anders. Der FDP-Abgeordnete Valentin Abel verwies vor der Abstimmung im Bundestag darauf, dass die 96 deutschen Europaabgeordneten mehr als einem Dutzend Parteien entstammen. Mit einer Zwei-Prozent-Sperrklausel verhindere man die Zersplitterung und stelle sicher, dass “auch die Vertretung Deutschlands innerhalb des Europäischen Parlaments stark und selbstbewusst vonstattengehen kann”. Außerdem stärke man die Handlungsfähigkeit des ganzen Parlaments. In seiner fast 50-jährigen Geschichte habe es diese Handlungsfähigkeit vielleicht nie so dringend benötigt wie derzeit angesichts der Herausforderungen “Klimawandel, Nachwehen der Covid-Pandemie und Migrationsfragen”.

  • Alex 🇺🇦 🏳️‍🌈@feddit.de
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    1 year ago

    Es wäre sicherlich einfacher, klimafreundliche Politik zu machen, wenn die Bevölkerung mehrheitlich klimafreundlich wählen würde. Dann müsste man auch keine Kompromisse in ner Koalition machen. Klimafreundlichere Politik wäre mir sehr viel lieber, aber die in der Koalition zu erwarten versteh ich nicht.

    • Oliver@lemmy.ca
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      1 year ago

      aber die in der Koalition zu erwarten versteh ich nicht

      Wozu nen Koalitionsvertrag unterzeichnen, wenn ich in der Koalition keine Ziele umsetzen kann? Die kleinste Partei der Koalition bekommt’s ja hin, ihre Interessen durchzusetzen. Magisch! 🧙‍♂️

        • Oliver@lemmy.ca
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          1 year ago

          Wie jetzt? Schwarz-Rot hat die Sektorziele im Klimaschutz eingeführt, die Grünen haben sie mit der Ampel abgeschafft. Was hat sich denn verbessert?

          Was hat diese Partei denn bitte für nen klimapolitischen Nutzen, außer der (meist besonders privilegierten) Wählerschaft ihr Gewissen reinzuwaschen?

          • Alex 🇺🇦 🏳️‍🌈@feddit.de
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            1 year ago

            Schwarz-Rot hat die Sektorziele im Klimaschutz eingeführt

            Du argumentierst jetzt nicht ernsthaft, dass es in den 16 Jahren vor der aktuellen Regierung bessere Klimapolitik gab? Woher stammt dann deine Erwartung? Von dem was nötig wäre, um effektiv zu sein?

            Wir kriegen ziemlich genau die Klimapolitik, die wir wollen. Eine die ein bisschen was ändert (damit wir uns nicht so untätig fühlen) aber nicht zu viel (damit wir nicht allzuviel Angst vor Veränderung haben müssen) und damit natürlich auch eine, die uns erheblich auf die Füße fallen wird, aber halt erst später, noch nicht jetzt.

            Effektive Klimapolitik wäre vermutlich politischer Selbstmord, bei der aktuellen Bereitschaft der Bevölkerung. Ich mein…die diskutiert darüber, ob verzweifelte Menschen, die sich auf Straßen kleben, Terroristen sind…mehr musst du gar nicht wissen um zu begreifen wie lost wir sind.

            Die interessante Frage ist, wie wir es hinkriegen, dass die Menschen gegen ihre kurzfristigen und für ihre langfristigen Interessen wählen.

            • Oliver@lemmy.ca
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              1 year ago

              Du argumentierst jetzt nicht ernsthaft, dass es in den 16 Jahren vor der aktuellen Regierung bessere Klimapolitik gab?

              Ich habe dir eine konkrete Frage gestellt, die lautete

              Was hat sich denn verbessert?

              Die Einführung der verbindlichen Sektorziele war konkret sicherlich eine der gewichtigsten Entscheidungen, um verbindlich den Klimaschutz in diesem Land voranzubringen.

              Die aktuelle Bundesregierung schafft die Sektorziele ab, bremst bei allen Investitionsvorhaben ab - außer der Kriegsindustrie, schafft gigantische klimaschädliche LNG-Kapazitäten, erleichtert massiv den Autobahnausbau, und, und, und,…

              Deshalb noch einmal die konkrete Frage:

              Weil man dann zumindest etwas klimafreundliches durchsetzen kann, anstatt gar nichts.

              Was hat diese Regierung ganz konkret denn ganz konkret klimafreundlich durchgesetzt, das für die “Grünen” spricht?

              Effektive Klimapolitik wäre vermutlich politischer Selbstmord

              Na, solange ein Totalversagen im Klimaschutz und die menschenverachtende Verschärfung des Asylrechts noch immer kein Problem für die Wählerschaft der Bündnisgrünen sind, weiß ich nicht, welchen Anspruch diese überhaupt an ihre Partei haben.

              • Alex 🇺🇦 🏳️‍🌈@feddit.de
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                1 year ago

                Was hat sich denn verbessert? Was hat diese Regierung ganz konkret denn ganz konkret klimafreundlich durchgesetzt, das für die “Grünen” spricht?

                Wind-an-Land-Gesetz

                schafft gigantische klimaschädliche LNG-Kapazitäten

                Hast du einen konkreten alternativ-Vorschlag die Industrie in Deutschland zu erhalten, oder bist du bloß aus Prinzip dagegen?

                Na, solange ein Totalversagen im Klimaschutz und die menschenverachtende Verschärfung des Asylrechts noch immer kein Problem für die Wählerschaft der Bündnisgrünen sind, weiß ich nicht, welchen Anspruch diese überhaupt an ihre Partei haben.

                Kennst du ne andere Partei, die ne realistische Chance hat, an einer Bundesregierung beteiligt zu sein (also Politik tatsächlich mitzugestalten) und die anspruchsvollere klimapolitische Ziele hat? Nicht? Dann gibt’s wohl keine offensichtliche, bessere Alternative.

                • Oliver@lemmy.ca
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                  1 year ago

                  Hast du einen konkreten alternativ-Vorschlag die Industrie in Deutschland zu erhalten

                  Statt Dörfer dem Erdboden gleichzumachen, um RWE noch mehr Kohle verbrennen zu lassen, hätte ich so lange ganz sicher kein Kernkraftwerk vorzeitig abgeschaltet, bis auch das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet ist. Kein Grad weiter müsste oberste Prämisse sein, alles andere sich dem unterordnen, davon bin ich überzeugt.

                  Bei den LNG-Terminals geht es mir zudem nicht darum, dass sie gebaut werden, sondern um die völlig überdimensionierten Kapazitäten.

                  oder bist du bloß aus Prinzip dagegen?

                  Ich halte die Idee einer kapitalistischen, wachstumsorientierten Partei, die grün sein will, für völlig naives Greenwashing. Eine Stimme für diese Partei, die sich von E&Y und Vonovia beraten lässt, kann selbstverständlich wenig dazu beitragen, die Ursachen der anhaltenden Klimakatastrophe abzufangen und nicht mehr als einen Ablassbrief bieten. Daher ja auch das ständige Gerede von den ach-so-großen Bauchschmerzen, wenn “Prinzipien” im Wochentakt über den Haufen geworfen werden. Dass die “Grünen” wieder voll dabei sein werden, den neoliberalen Turbo zu zünden, damit habe ich gerechnet. Dass die Regierung mit dieser Partei noch übler performt, als sie es ohne die FDP unter Joschka Fischer bereits getan hat, hatte selbst ich nicht in Erwägung gezogen.

                  Kennst du ne andere Partei, die ne realistische Chance hat, an einer Bundesregierung beteiligt zu sein (also Politik tatsächlich mitzugestalten) und die anspruchsvollere klimapolitische Ziele hat?

                  Im Gegensatz zu den Bündnisgrünen liegt mir das Klima zumindest so sehr am Herzen, dass ich doch bei einem Prinzip bleibe (um mal wieder auf die Frage bist du bloß aus Prinzip dagegen zurückzukommen): Keine kapitalistischen Parteien zu wählen.

                  Dann gibt’s wohl keine offensichtliche, bessere Alternative.

                  Waren die letzten Worte der Sau auf der Weg zum Schlachthof. Bezeichnend, dass die Anhängerschaft der “Grünen” nach knapp 2 Jahren nicht nur das Niveau, sondern gleich das Vokabular von Merkel übernommen hat.

                  • Alex 🇺🇦 🏳️‍🌈@feddit.de
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                    1 year ago

                    vorzeitig abgeschaltet

                    Da bin ich raus.

                    so sehr am Herzen, dass ich doch bei einem Prinzip bleibe

                    Ah genau, weil dir das Klima so sehr am Herzen liegt, wählst du so, dass deine Stimme effektiv der Bundestagsmehrheit (gegen Klimapolitik) zugerechnet wird.

                    Weil kein Fortschritt mit den richtigen Prinzipien immernoch besser ist, als ein bisschen Fortschritt aus den falschen.

                    Muss ja keinen Sinn machen, solange es sich gut anfühlt.